Ich bin zurück aus dem Urlaub. Und teile gerne einige psychologische Impulse mit euch, die mir in der Zeit des Urlaubs und danach durch Kopf und
Herz gegangen sind.
Kennst du es aus deinem Alltag, dass du aus wenigen Infos Rückschlüsse ziehst auf andere Personen oder Situationen? Wir alle tun das in gewissem
Maß. Denn unser Gehirn möchte die Komplexität der Welt reduzieren und freut sich, Dinge in bereits bekannte Muster einzusortieren. Das ist auch wichtig und hilfreich, da uns sonst
die Fülle an Informationen überfluten und überfordern würde. Du bist als Kind Bus gefahren und fährst dann irgendwann mit einem Zug? Okay, das wird ähnlich funktionieren. Jemand
lächelt? Okay, er oder sie scheint gut gelaunt und freundlich sein. Ein neuer Kopierer im Büro? Okay, wird ähnlich funktionieren wie der alte.
Im Urlaub saßen wir beim Frühstück mit immer wieder anderen Menschen zusammen. Es ergaben sich Gespräche, kurze und längere, oberflächliche oder
intensivere. An einem Morgen setzen wir uns zu einem Mann, der offenbar allein unterwegs war. Er grüßte nicht, drehte sich demonstrativ von uns weg, starrte aus dem Fenster,
und selbst als der Kellner zuvorkommend noch einen Kaffee anbot reagierte er erst auf die zweite Nachfrage und dann sehr unwirsch und mit einer wegscheuchenden Handbewegung. Was
hättet ihr gedacht?
Okay, ihr ahnt vermutlich bereits, dass er nicht nur ein schlechtgelaunter Griesgram war. Irgendwann sprach er uns an, entschuldigte sich für seine
abweisende Art und erklärte, dass dies seine erste Reise nach dem Tod seines Lebenspartners ist. Er hatte mit den Tränen und seinen Emotionen gerungen. Es entwickelte sich dann
noch eins der nettesten Gespräche dieser Reise.
Wenn ich im Coaching und im Leben eins gelernt habe, dann dass jede und jeder ein Päckchen trägt. Seid nachsichtig. Ihr könnt nie wirklich wissen,
was in einem anderen Menschen vorgeht.
Wir sind manchmal schnell dabei, uns ein Urteil über jemanden zu bilden. Steckt Menschen nicht zu schnell in Schubladen. Und wenn die Menschen in
einer Schublade sind - denn da stecken wir Menschen in unserem Umfeld eben doch rein - dann gebt diesen Menschen auch die Chance, aus Schubladen wieder rauskommen zu
können. Trotz Komplexitätsreduktionswunschs eures Gehirns.
Im systemischen Coaching bemüht man sich als Coach um eine „Nichtwissende“-Haltung. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte, seine eigenen
Schwierigkeiten, Überzeugungen bzw. Glaubenssätze, Ressourcen, Erfahrungen und Ziele. Es ist wichtig, da einzutauchen. Es ist wichtig, die Realitätsinsel bzw. Landkarte („Sicht
auf die Welt“) der Klient:innen zu erkunden. Dazu ist es wichtig, nicht bei einem Stichwort oder einigen Infos schon auf entweder eigene Erfahrungen und Vorstellungen oder auf die
anderer Klient:innen rückzuschließen. Es ist wichtig, offen und neugierig zu sein und zu bleiben, und nicht vermeintlich schnell in ein „Jetzt weiß ich, wie du bist / was du
meinst / worum es genau geht“ zu verfallen.
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Hast du selbst schon erlebt, dass dich Menschen schnell in eine Schublade gesteckt haben? Wie war das für dich?
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Vielleicht beobachtest du in den nächsten Tagen einmal, wann du von wenigen Infos oder Eindrücken auf „etwas“ schließt.
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Und vielleicht magst du dich in diesen Momenten in „Nichtwissen“ üben.
Deine Sonja